Eigentlich hatte ich den Text ja schon für unsere letzte Diplomacy-Runde geschrieben, aber da ist das Spiel eingeschlafen, bevor es auf der Homepage erschienen ist.
Darum also hier nochmal ein kleiner, historischer Überblick, wie es in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts aussah:
Europa auf dem Sprung ins 20. Jahrhundert. Sieben Großmächte teilen sich den Kontinent und ringen um die Durchsetzung ihrer Interessen.
Obwohl von der europäischen Revolutionswelle Mitte des 19. Jahrhunderts nicht betroffen, ist das Britische Imperium von Königin Viktoria schon nicht mehr in der Blütezeit seiner Macht als im Januar 1901 das Szepter an Eduard VII. weitergegeben wird. Zwar immer noch die unbestrittene Weltmacht zur See, haben die USA und Deutschland das Vereinigte Königreich jedoch in wirtschaftlichen Belangen bereits überholt. Eine Krise in der irischen Landwirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit und eine Stagnation des Aufschwungs durch die Industrialisierung zwingen das Imperium zu einer Konzentration auf innenpolitische Probleme, die zwar auf Initiative von David Lloyd George und Sir Winston Churchill einige fortschrittliche Gesetze eines modernen Wohlfahrtsstaates hervorbringt (Altersrente, nationale Krankenversicherung, behördliche Stellenvermittlung, Arbeitslosenversicherung), die Nation aber von den außenpolitischen Problemen auf dem Balkan und der aggressiven deutschen Flottenpolitik ablenkt. In Europa an einem Gleichgewicht der Kräfte interessiert, bemüht sich Großbritannien um eine besonnene Diplomatie zwischen den Hegemonialmächten. Dennoch kommt es immer wieder zu Differenzen mit Frankreich und Deutschland, wenn es um Kolonien in Afrika geht, und zu Streitigkeiten mit Russland und dem Osmanischen Reich um britische Interessen im Nahen Osten und Indien. Um die Jahrhundertwende besitzt das Vereinigte Königreich zahlreiche Kolonien in Afrika (Ägypten), Amerika und Asien (Indien), besinnt sich jedoch zunehmend auf seine Rolle als Großmacht in Europa.
Trotz der kapitalen Niederlage gegen Preußen und die Schmach des Versailler Vertrags von 1871 kann Frankreich erst die plebiszitäre Diktatur Napoleons III. überwinden und dann auch die Monarchie hinter sich lassen, ohne dabei jedoch seinen in den Krimkriegen gegen Rußland und im Nizza-Krieg gegen Italien gewonnenen Großmachtstatus einzubüßen. Mit einer republikanisch-parlamentarischen Verfassung beginnen die revidierenden Reformen jedoch nur schleppend. Die Regierung der gemässigten Republikaner unter Staatspräsident Jules Grévy unterstützt weiterhin die Interessen von Großbürgertum und Adel in Wirtschaft und Militär und handelt sich damit den Vorwurf des Opportunismus ein. Dennoch tritt eine erste Liberalisierung der Bildung, des Pressegesetzes und des Arbeiterrechts ein. Durch ein wieder aufkeimendes Interesse an den Kolonien in (Nord-)Afrika (Algerien), Amerika (Mexiko) und Indochina wird auch der Konflikt mit anderen europäischen Großmächten erneut geschürt. Innenpolitisch teilt sich das Land derweil in zwei große Lager, den nationalistisch-antisemitistischen Block aus Armee, Adel, Kirche und Bürgertum und auf der anderen Seite die Einheit der Republikaner und Sozialisten. Mit dem Panama-Skandal 1892/93 und der Dreyfus-Affäre 1894 kommen schließlich die Radikalsozialisten an die Macht und die innenpolitische Lage beruhigt sich wieder. So kann sich Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit gestärktem Selbstbewußtsein und als wirtschaftliche Großmacht dem europäischen Ausland stellen.
Durch Otto von Bismarcks geschickte Bündnis- und Kolonialpolitik ist das Deutsche Reich im 19. Jahrhundert zur mächtigsten europäischen Großmacht geworden. Innenpolitisch um liberale Reformen bemüht, dabei außenpolitisch durch eine einzigartige Diplomatie gegen alle potentiellen Aggressoren abgesichert, verfolgt der Reichskanzler eine besonnene und defensive Politik. Durch Dreikaiserbündnis (Österreich, Deutschland, Rußland), Dreibund (Österreich, Italien, Deutschland), Rückversicherungsvertrag (Deutschland, Rußland) und Mittelmeerentente (Großbritannien, Italien, Österreich) steht das Deutsche Reich also mit allen europäischen Nachbarn - mit Ausnahme Frankreichs, das gerade den Versailler Vertrag als Kapitulation vor Deutschland unterzeichnet hat - im direkten oder indirekten Bündnis. Dennoch hängt diese scheinbare Einigkeit an einem seidenen Faden, da das diplomatische Kartenhaus bei der geringsten Bewegung einer einzigen Nation in sich zusammenbrechen würde. Die vorbildliche Sozialgesetzgebung soll den Sozialisten im eigenen Land, allen voran der Sozialistischen Arbeiterpartei, den Wind aus den Segeln nehmen, was jedoch nur mäßigen Erfolg hat. Mehr Erfolg hat die Einführung von Schutzzöllen, um die preussische Industrie und Landwirtschaft vor Schaden zu bewahren. Mit Wilhelm II. betritt 1888 ein aggressiver Nationalist die Weltbühne der Politik und schickt seinen Reichskanzler Otto von Bismarck in den Ruhestand obwohl er nicht einmal einen Bruchteil von dessen diplomatischen Feingefühl besitzt. So sind die folgenden Jahre auch von zahlreichen Konflikten geprägt, die zum großen Teil auf die Unfähigkeit Wilhelms II. zu diplomatischen Verhandlungen zurück zu führen sind. Neben der Einmischung in den Kolonialkrieg Großbritanniens auf Seiten der Buren, dem Zuspruch an das Osmanische Reich zum Bau der Bagdadbahn wider britische Interessen und der massiven Aufrüstung der deutschen Flotte, legt es Wilhelm II. durch sein Eingreifen in die Marokkokrise auch auf einen neuerlichen Konflikt mit Frankreich an. Die filigranen Bündnisse aus der Ära Otto von Bismarcks zerfallen, werden gebrochen oder nicht verlängert und so kommt es zur unvermeidlichen Annäherung zwischen Rußland, Frankreich und Großbritannien, die Otto von Bismarck immer zu verhindern versucht hatte. Am Anfang des 20. Jahrhunderts ist das Deutsche Reich zwar stärkste Macht Europas, muß sich aber mit Feingefühl und Besonnenheit auf der politischen Bühne bewegen, um nicht zwischen den anderen Großmächten aufgerieben zu werden.
Das außenpolitisch geeinigte Kaiser- und Königreich Österreich-Ungarn hat im halben Jahrhundert seines Bestehens mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Die multikulturelle Bevölkerung des gewaltigen Reiches sorgt unentwegt für Spannungen. Die tschechischen Provinzen Böhmen und Mähren streben nach ihrer Unabhängigkeit, während die Regierungen beider Monarchien ihre deutschen und ungarischen Staatsvölker der Mehrheit der slawischen Bevölkerung in vielen Belangen vorziehen. Obendrein bedroht Rußland außenpolitisch das Reich, indem es eigene, panslawische Interessen auf dem Balkan verfolgt. Seinen Großmachtstatus verdankt Österreich-Ungarn jedoch weder politischem Einfluß, noch einem starken Militär. Es ist vielmehr die pure Größe der Nation, die ihren Rang sichert. Immerhin ist Österreich-Ungarn mit 676 615 Quadratkilometern Landfläche und 53 Millionen Einwohnern nach Rußland das zweitgrößte Reich Europas. Um 1900 ist mit dem Osmanischen Reich eine dritte Großmacht in das fortwährende Ringen um den Balkan eingetreten und hat diesen zu einem brodelnden Kessel werden lassen, der bei der kleinsten Unachtsamkeit überkocht. So hat Österreich-Ungarn sich nicht nur zwischen Rußland, Osmanischem Reich und Deutschland als Großmacht zu behaupten, sondern auch mit Fingerspitzengefühl seine Interessen in der Adria und auf dem Balkan zu vertreten.
Im Krimkrieg von britischen, französischen, sardinischen und türkischen Truppen vernichtend geschlagen, wurden Russlands Expansionspläne im 19. Jahrhundert vor den Toren Konstantinopels, in Armenien, dem nordöstlichen Balkan und den Donauprovinzen aufgehalten. Dies hält Zar Alexander II. jedoch nicht davon ab, bis zu seinem Tod das russische Reich im Osten bis an den pazifischen Ozean und im Südosten bis Indien auszuweiten. Mit Alexander III. auf dem Zarenthron beginnt der achte russische Krieg gegen das Osmanische Reich um Serbien und Montenegro, die sich von dem Konflikt die Unabhängigkeit versprechen. Innenpolitisch wird eine strenge Zensur eingeführt und ein 'Russifizierungsprogramm' für alle besetzten Gebiete wird verabschiedet. Zahlreiche Schriftsteller werden des Landes verwiesen oder zur Zwangsarbeit verurteilt, Universitäten dürfen die Philosophie und Geschichte nicht mehr lehren und an keiner Hochschule dürfen mehr als 300 Studenten eingeschrieben sein. Russland hat Angst vor der Bildung, die im 19. Jahrhundert zahlreiche Revolutionen über Europa brachte. Als 1894 Alexanders Sohn Nikolaus II. den Thron besteigt, bricht eine neue Ära für Russland an. Nikolaus II. herrscht mit guten Absichten, kann sich jedoch trotz oder gerade wegen seiner autokratischen Erziehung kaum durchsetzen. Zudem verschärft sich erneut der Konflikt auf dem Balkan und um die Jahrhundertwende kündigt sich im Osten ein Krieg mit Japan an. So steht Russland um 1900 als größte Nation Europas an einem Wendepunkt seiner bewegten Geschichte.
Zum Osmanischen Reich und Italien kann ich leider nicht viel schreiben, da ich mich da schlichtweg nicht auskenne. Vielleicht weiss von euch da einer mehr und erleuchtet mich?
Soviel von mir, dann war mein Geschichts-LK also doch nicht ganz umsonst.
Sebastian