
Amundsen betrachtete das Pergament interessiert.
"Auch ich spreche die Sprachen der Nordvölker nicht wirklich. Aber wenn ich dieses Wort so höre, würde ich schon sagen, dass es der Name eines Schiffes sein könnte..."
Er dachte kurz nach, stand dann auf und ging zu einem kleinen Bücherregel, welches an der Wand stand. Er ging mit dem Finger eine Reihe nach der anderen von rechts nach links durch, und zog schließlich ein kleines unscheinbares Papierbündel hervor. Es waren lose Seiten, die von zwei Lederbändern zusammengehalten wurden. Auf dem Deckblatt stand in schwungvoller Handschrift "Seemannssprachen dieser Welt".
"Diese kleine Sammlung habe ich während meiner Ausbildung und in den darauffolgenden Jahren unter Mithilfe von vielen Leuten aus den verschiedensten Ländern angelegt. Sie enthält einige wichtige Begriffe auf vielen verschiedenen Sprachen. Wenn man sich mit Mannschaften aus fernen Ländern verständigen möchte, ist es manchmal sehr hilfreich zumindestens einige wichtige Worte zu kennen. Aber es ist halt wirklich nicht viel und vor allem hauptsächlich Wörter die man auf See oft braucht."
Er blätterte in dem Werk bis zu einer Überschrift "Nordische Sprachen". Dort fing er an, genauer zu lesen. Es waren Listen mit Wörtern, jeweils in einer fremden Sprache und der Gemeinsprache notiert, das ganze grob nach Regionen sortiert. Hjore konnte sogar ein paar typische Worte seines Heimatdialektes entdecken. Leider war das gesuchte Wort in der Liste nirgends zu finden.
"Tut mir leid, aber es sieht so aus als wäre das gesuchte Wort nicht dabei.
Vielleicht solltet Ihr nach unserer Rückkehr in Dubj nach Nordmännern suchen. Oder kommt nicht sogar Euer Gefährte Orm aus Norolk? Vielleicht kann der Euch etwas dazu sagen."
Er warf noch einen Blick auf das Pergament, und stand dann auf, um seine Wörterliste wieder im Regal zu verstauen.
"Aber Ihr habt Recht, der Hafenmeister in Dubj hat mir von einem Schiffswrack ein paar Tagesmärsche östlich der Stadt erzählt. Ich bin selbst nicht dort gewesen, denn ich hatte so schon genug zu tun."
Er öffnete den Deckel einer Truhe.
"Stimmt es, dass Ihr schon viel Zeit auf See verbracht habt und auch ein wenig mit der Führung eines Bootes vertraut seid?"
Hjore antwortete, dass er längere Zeit als Seesöldner gedient hat und auch das nötige Wissen besitzt, um z.B. beim Segelsetzen oder bei Wendemanövern mit anzupacken, dass er aber nie das Handwerk eines Navigators erlernt hat. (OT: Stimmt doch, oder? ^^)
"Nun gut, jedenfalls solltet Ihr wissen, dass ein Schiffswrack an der Küste von Dubj an sich erstmal nichts besonderes ist. Fast jedes Jahr spülen die Herbststürme irgendwelche Reste von Schiffen an Land. Für die Fischerfamilien ist das manchmal ein kleiner Nebenverdienst, wenn es noch verwertbare Ausrüstungsgegenstände gibt."
Er kam mit einer großen Pergamentrolle zurück an den Tisch. Als er sie ausrollte, kam eine grobe Seekarte der Küstengewässer von Dubj zum Vorschein, darin eingezeichnet die Küstenlinie mit Dubj in der Mitte, jene Untiefenregion sowie einige Pfeile, die Meeresströmungen darstellten.
"Seht Ihr, wenn ein Schiff irgendwo hier draußen verunglückt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Treibgut von den Strömungen erfasst und mehr oder weniger parallel zur Küste nach Nordosten abgetrieben wird."
Er deutete auf die entsprechenden Pfeile in der Karte.
"Die Herbststürme treiben solche Fundstücke dann vollends an Land, meistens aber weit über die gesamte Küste verstreut. Man hört gelegentlich von Fischern, die auf See verschollen sind. Irgendwann werden ihre Boote von Wanderern gefunden und die Fischer für tot erklärt. Es kam aber auch schon vor, dass einer jener vermissten Fischer ein paar Wochen später mehr oder weniger gesund wieder bei seiner Familie saß. Die Strömung hatte ihn weiter abgetrieben als das Boot, so dass er die Küstenstraße zurückreisen musste.
Jedenfalls habe ich einige Geschichten über euer Wrack gehört. Ich denke, der Hafenmeister dürfte wohl die vertrauenwürdigste Quelle sein, auch wenn er selbst nicht dort gewesen ist. Nach ihm waren es wohl auch nur Wrackteile und kein ganzes Bugteil oder so. Aber angeblich soll ein Beiboot nahezu unbeschädigt geborgen worden sein.
Das besondere an jenem Schiff war aber, dass es eben kein thorländisches Fischerboot war, sondern ein offenbar recht großes Schiff. Die Rumpfbauweise des Beibootes ist hierzulande nicht üblich, demnach muss es von sehr weit hergekommen sein.
Natürlich quatschen die Fischer und Bauern in Dubj immer noch viel über das Wrack. Man sagt es sei ein Piratenschiff, oder von Piraten angegriffen worden. Angeblich seien Spuren von Axthieben am Mast gefunden worden sein. Doch Euch als Seemann brauche ich ja nicht zu sagen, dass es in einem schweren Sturm durchaus zu Situationen kommen kann, in denen ein Mast gefällt werden muss.
Wenn wir zurück in Dubj sind, solltet Ihr den Hafenmeister fragen. Vielleicht könnt Ihr euch das Wrack auch ansehen, nicht verwertbare Teile lassen die Fischer meistens liegen.
Er ließ seinen Blick durch seine Kajüte streifen.
"Wenn Euer Magnus tatsächlich so ein berühmter Kapitän gewesen ist wie Ihr sagt, solltet Ihr vielleicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dass er irgendwo auf ein Schiff gegangen ist. Wer einmal die salzige Meerluft in der Nase hatte, kehrt immer wieder zu ihr zurück. Auch ich täte mich schwer damit, eine größere Strecke über Land zu reisen.
Aber die Überlebenschancen stehen bei einem Schiffbruch nahe der thorländischen Küste nicht so schlecht wie anderswo, eben weil die Strömung günstig ist."
Er lächelte Hjore an.
"Doch ich verspreche Euch, sollte ich jemals etwas über den Verbleib eines Magnus Magnusson erfahren, werde ich das sofort an Creton bzw. einen Vertreter in Kupferberg ausrichten lassen."